| © KinTheTop/Angela Heide zuletzt aktualisiert: 16.10.2021 Zitierweise: www.kinthetop.at/forschung/kinthetop_8_Palastkino.html, zuletzt eingesehen [Tag.Monat.Jahr] < zurück Auf dem Areal standen bis 1834 zwei Häuser, die genau da zusammengebaut wurden, wo bis 1862 die Grenze zwischen den Vorstädten Altlerchenfeld und Strozzigrund lief. 1912/1913 wurde das heute noch bestehende Haus erbaut, das durch mehrere Höfe getrennt bis zur Pfeilgasse reicht. Architekt des Gebäudes war Johann Marschall (1875 od. 1876-1949), der zugleich das Wohn- und Geschäftshaus an der Josefstädterstraße 43-45 und kurz darauf auch das Miethaus in der Pfeilgasse 8 plante, das als Durchhaus zu Josefstädterstraße 43-45 konzipiert war. Marschall plante von Beginn an ein künftiges multifunktionales Unterhaltunsetablissement im Souterrain des Hauses mit, wobei die Räume zuerst als Bierhalle genutzt werden sollten. Das Kino selbst wurde wohl bereits kurz nach Fertigstellung des Gebäudes errichtet und vermutlich 1914 als „Palace Grand Kinotheater“ eröffnet. Ab 1915 befand es sich in Besitz der jüdischen Familie Sieber/Haas. Obwohl als Kino konzipiert, wurde der Saal immer wieder auch für Theatervorstellungen genutzt, da er von der Ausstattung her an die Theaterarchitektur der Zeit angelehnt war und so etwa über einen eigenen Bühnen- und Orchesterraum verfügte. Ebenerdig befanden sich klassisch angeordnete Sitzreihen, der Rang zog sich in einem Halbrund bis zur Bühne nach vor. Die Ausstattung des Saals war auffallend vornehm und bot unter anderem gepolsterte rote Fauteuils. Am 18. November 1918 wurde hier das Lustspiel Weg mit dem Schuhzeug gegeben, zu dem die Salonkapelle Leopold Trischler spielte. Trischler war Dirigent des Philadelphia-Theaters in New York gewesen sowie Chordirigent in Wien und Olmütz und Mitglied des Kaiser Jubiläum Stadttheaters. Als Eintritt wurde der Einheitspreis von 20 Heller verlangt. Im März 1938 war die Eigentümer*in des Kinos eine Gesellschaft, die aus folgenden Personen bestand: Selma Haas (9/24), deren Schwester Paula Sieber (9/24), deren Schwägerin Laura Ticho (4/24) sowie deren Neffe Walter Deutsch (1/24) und dessen Schwester Fritzi Gross(owa), geb. Deutsch (1/24) Konzessionsinhaberin war bis zum „Anschluss“ im März 1938 Selma Haas. Da alle Eigentümer*innen jüdischer Abstammung waren, wurde das Kino zur Gänze „arisiert“, wobei den enteigneten Eigentümer*innen nichts für den Kauf des Kinos bezahlt wurde, da dieses als „überschuldet“ eingestuft wurde. In einem Akt des Bundesministeriums für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung aus dem Oktober 1947 heißt es dazu: „Mit dem Bescheid der Vermögensverkehrsstelle im Ministerium für Wirtschaft und Arbeit vom 5. Jänner 1939 wurde die Veräußerung der Firma Palastkinotheater in Wien 8., Josefstädter Straße 43/45 an Otto Modl […] und Ferdinand Spitzka […] gemäß Art. I., § 1 des Gesetzes vom 27. April 1938 […] genehmigt; den Käufern ist mit Verfügung von 4. März 1939 eine Entjudungsauflage in der Höhe von 5.163,- RM zur Zahlung vorgeschrieben worden. Die Festsetzung des Kaufpreises entfiel, da bei einem Sachwert von RM 10.000,- eine Überschuldung von RM 5.648,55 festgestellt wurde. Die Genehmigung wurde erteilt, ohne dass ihr ein Rechtsgeschäft zwischen den jüdischen Gesellschaftern und den Erwerbern zugrunde gelegen wäre.“ Die beiden kinofremden „Ariseure“ - je 50 Prozent waren vom 1939 mit dem Blutorden ausgezeichneten SS-Untersturmführer Otto Modl (20., Robert-Blum-Gasse 3) und SS-Hauptscharführer Ferdinand Spitzka (8., Josefstädter Straße 30) übernommen worden - erhielten während des Krieges wegen „nichtluftschutzgemäßen Verhaltens“ bei einer Sondervorführung des Filmes Feldzug in Polen für die Wiener Stadtregierung eine Strafanzeige und gerieten bald auch untereinander wegen finanzieller Probleme in harte Streitigkeiten, in deren Folge Otto Modl Selbstmord beging. Die Rückstellung des Kinos wurde daher vorgesehen, jedoch wurde im Dezember 1946 darauf hingewiesen, dass man bis zum Inkrafttreten des neuen Rückstellungsgesetzes warten müsse. Bereits im Frühling 1945 suchte Helene Bock (Jg. 1906) darum an, für die enteigneten einstigen Eigentümer*innen als vorläufige öffentliche Verwalterin eingesetzt zu werden. Bock, selbst ab 1938 „rassisch verfolgt“, argumentierte ihren Antrag damit, dass sie die „einzig überlebende Verwandte der beiden genannten Opfer des Naziregimes“ sei, und nannte als Inhaber*innen in ihrem Ansuchen nur Paula Sieber, geborene Ticho, der die Emigration nach England gelungen war, sowie die von den Nationalsozialisten nach Litzmannsstadt (Lódz), Polen, deportierte und dort ermordete Selma Haas, geborene Ticho. Im Sommer 1945 wurde vorerst Ettel Marschallek als provisorische Leiterin eingesetzt. Erst im März 1947 kam es zur Abberufung Marschalleks und offiziellem Eintritt Bocks als öffentliche Verwalterin des Kinos. Die überlebenden Eigentümer*innen hatten, vertreten durch ihren Anwalt Dr. Hans Thallmayer, ebenfalls im Sommer 1945 bereits ihren Wiedergutmachungsantrag vorgelegt. diesem schloss sich im Oktober 1946 auch der in Tel Aviv, Palästina, lebende Franz Ticho, ein Neffe von Selma Haas und Paula Siebers, an. Im März 1947 wurde bekannt, dass neben Siebers Schwester Selma Haas auch deren gemeinsame Schwägerin Laura Ticho sowie deren Neffe Walter Deutsch in Konzentrationslagern ermordet worden waren. Als überlebende blieben zu diesem Zeitpunkt einzig Paula Sieber und die in Brünn lebende Fritzi Gross(owa) sowie Franz Ticho. Im Oktober 1946 hielt Paula Sieber folgende Daten über die Geschichte des Kinos fest: „The cinema has been the property of members of my family without interruption since 1915. The house in which the cinema is was owned in 1938 by Messrs. Sommerlata and Ing. Marschall […]. The cinema’s licence was originally in den name of my father, and, on his death, in that of my sister, Mrs. S. Haas, who was the licencee in 1938. I applied for naturalisation as British subject in 1945. The certificate has not yet been granted, but I hope to receive it in the near future. My son, Lieut. Sieber, R.N.V.R., has become a British subject by naturalisation.“ Im Juli und August 1947 wurde das Kino mit Bewilligung des Ministeriums für Vermögenssicherung für eine Generalsanierung geschlossen. Am 20. November 1947 wurde mit Teilerkenntnis der Rückstellungskommission Wien das Kino an die ehemaligen Eigentümer*innen rückgestellt. Im Jänner 1948 kam es zur Aufhebung der öffentlichen Verwaltung. Zuletzt wurde das Kino nur noch als Nachspielkino genutzt, das Programm wechselte dabei dienstags oder donnerstags – je nach Erfolg des Filmes. Das Schließungsdatum variiert. So geben manche Quellen das Jahr 1969 an, andere 1972 und wieder andere nennen erst das Jahr 1978. Heute befindet sich hier eine Filiale der Kette „Spar“. Fassungsraum: 706 (1914) 783 (1922) 788 (1934) Quellen Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 104, A11: 8. Palast Kino Einzelnachweise Wiener Stadt- und Landesarchiv, Reichsfilmkammer, Außenstelle Wien, A1 – Kinoakten: 85 Palast-Kinotheater Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 119, A27 - ÖV Kino: K69 Palast-Kino Wiener Stadt- und Landesarchiv, Gauakten, A1: Zl. 14.256 Wiener Stadt- und Landesarchiv, Gauakten, A1: Zl. 313.731 < zurück |